2013 schulmerich

2013 • Literatur

Annette und Joachim Schulmerich

Rüdigheim 1954 / Frankfurt 1943

www.cocon-verlag.de



Annette und Joachim Schulmerich

Über Annette und Joachim Schulmerich zu sprechen heißt: über Kreativität und Leidenschaft zu reden. Über schöpferisches Tun. Über das Machen.

Machen: Selbst Machen. Gemeinsam mit anderen Machen. Für andere Machen. Das sind drei Dimensionen, Reichweiten des Handelns. Annette und Joachim Schulmerich zu loben – und das ist der Sinn einer Laudatio über „Literatur und Sonstiges” – gilt nicht einem stillen Vorsichhinwerkeln im Hobbykeller, sondern dem Machen, dem in Bewegung setzen, dem Verändern. Nur was der Mensch verändert, das besitzt er wirklich. Und verändern beginnt schon beim Wahrnehmen.

Das, was Annette und Joachim Schulmerich tun und wofür sie auch öffentlich wirken, möchte ich „gesellschaftliche Kreativität” nennen. Das ist ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil von Kultur.

Vermutlich ist Ihnen der in unserer Gegend eher seltene Name Schulmerich doch schon begegnet; er kommt aus Rheinhessen und könnte etwas mit schulmeisterlich oder mit der klingenden Schelle zu tun haben, mit der der Ortsdiener früher die Bekanntmachungen ausgeschellt hat. In Hanau und Umgebung hat der Name Schulmerich einen besonderen Klang. Annette Schulmerich wird 1954 in Rüdigheim geboren. Nach der Mittelschule macht sie eine Lehre als Arzthelferin. Das Abitur holt sie 1976 nach und beginnt ein Medizinstudium in Frankfurt, das sie 1983 mit dem Staatsexamen abschließt. Danach ist sie angestellte Ärztin, spezialisiert sich und ist seit 1993 in Hanau niedergelassen als Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sie ist bis heute aktiv in ihrer Arztpraxis tätig.

Joachim Schulmerich, geboren 1943 in Frankfurt, legt mit 20 das Abitur dort ab und beginnt nach dem Wehrdienst Betriebswirtschaft und Mathematik in Frankfurt und Mainz zu studieren. Diplom 1971. Danach ist er wissenschaftliche Hilfskraft und arbeitet – spezialisiert auf dem EDV-Sektor – in der Strukturabteilung des alten Landkreises Hanau. Es folgen nahezu zwei Jahrzehnte Tätigkeit als Lehrer für Informatik an den Kaufmännischen Schulen in Hanau und später, kurz vor der Pensionierung 2005, weitere drei Jahre.

Für Annette und Joachim gibt es natürlich auch gemeinsame Daten, Herzensdaten: Kennengelernt haben sie sich in einer Gastwirtschaft in Rüdigheim, genauer: „bei der Mehrer Kätt in der Hinnerstubb bei einem Marxismusseminar”. Geheiratet haben sie 1974, haben dann in Dörnigheim und in Rüdigheim gewohnt, einem Ortsteil von Neuberg. Sie leben seit 1981 in Hanau. Die Kinder kamen 1982 und 1984 zur Welt. Felix will Architekt werden, Clara studiert heute Philosophie und Romanistik.

Der Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises, mit dem Annette und Joachim Schulmerich heute ausgezeichnet werden, wird vergeben für „Literatur und Sonstiges”. Unter Literatur kann man sich etwas vorstellen. Aber was, bitteschön, ist das Sonstige?

Annette, die Ärztin und Joachim, der Pädagoge. Es klingt vielleicht pathetisch, aber da haben zwei Menschen ihre – man kann sagen – innere Berufung, zum Beruf gemacht. Heilen und Lehren. Gesund machen und schlau machen, aufklären. Aber da ist ja noch mehr.

Machen, hatten wir gesagt, kann bedeuten, zusammen mit anderen Menschen zugewandt etwas tun. Beispielsweise Joachim: Mit Schülern Projekte machen, die Ergebnisse in kleinen Büchern zusammenfassen, kopiert oder rotaprintgedruckt. Den jungen Autoren Selbstvertrauen geben: Das hast Du hervorgebracht. Beispielsweise Annette: Psychisch Kranken oder Angeknacksten helfen Knoten zu lösen. Dafür müssen zunächst die Barrieren erkundet werden, auch kulturelle Barrieren zwischen Patient und Therapeutin: Können wir uns denn verstehen?

Nun aber zu der Frage: Was meint eigentlich „Gesellschaftliche Kreativität”? Dafür ist der Hanauer Kulturverein, zu dem das Ehepaar Schulmerich früh schon stieß und bis heute aktiv bleibt (ich setze hier ein Ausrufezeichen) – dieser Kulturverein ist ein Beispiel für soziokulturelles Zusammen-etwas-Machen. Annette Schulmerich war 18 Jahre lang Erste Vorsitzende des Vereins, das heißt: für eine so lange Zeit meist dafür bekannt im Kulturleben von Stadt und Land.

Dass es den Kulturverein seit jetzt 36 Jahren gibt, ist das Werk von vielen und auch ein Teil der Lebensleistung der beiden Preisträger. Er ist jedoch darüber hinaus ein lokales Beispiel für die – wörtlich jetzt – „Kultur”geschichte der Bundesrepublik seit den 70er Jahren, die mit Begriffen wie Alternativkultur, Kulturelle Bildung oder Kulturinitiativen einhergeht.

Eine Geschichte mit politischem Boden. Außerparlamentarische Opposition ist das Stichwort, kurz Apo. Ein anderes Stichwort ist das Jahr 1968. „68” – das war in Paris, Berlin oder Frankfurt etwas anderes als auf dem sogenannt flachen Land. Die Provinz bildete ihre eigenen Versionen von „68” aus. Aber es gab ja nicht nur 68, es gab auch 69 und es gab den Satz von Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen!”. Er wurde zur epochalen Formel besonders für den jüngeren Teil der Gesellschaft.

Das Experimentierfeld für Demokratie schlechthin war Kultur – nicht die Kultur für einen kleinen Kreis von Kennern, aus dem Bert Brecht einen großen Kreis von Kennern machen wollte. In den 1970er Jahren hieß das dann „Kultur für alle”. Hilmar Hoffmann, der Frankfurter Kulturpolitiker rief mit dem Slogan die Städte auf, Kultur als eine kommunale Pflichtaufgabe, als ein Lebensmittel und Überlebensmittel zu begreifen. So etwas wie kommunale Kulturpolitik gab es aber vielerorts überhaupt nicht, weshalb dort der Satz in „Kultur von allen” umgemodelt wurde. Darauf hatten viele gewartet, auch in Hanau, das mit Aufklebern „Nix los in Hanau” übersät war. Aber als ginge ein Ruck durch die Stadt hieß es plötzlich: „Mach was los in Hanau!” Und nicht nur hier passierte etwas – Kulturverein und Jazzclub sind zu nennen –, sondern auch im Landkreis: Um 1980 erblühten in Schöneck und Nidderau, in Maintal, Wächtersbach und sogar in Steinau plötzlich Kulturinitiativen – meist gemacht von Zugezogenen. Es gibt, nebenbei gesagt, einen gut erforschten Zusammenhang von Fremdheit und Initiative.

Den Hanauer Kulturverein hat meine Studentin Heidrun Merk damals als „Modell” untersucht – als Beispiel für eine der Stadt abgetrotzte und letztlich akzeptierte Alternative – ideenreich, gemeinschaftlich und gegen den Mainstream, also: gegenströmig. Typisch war oft die Identität von Machern und Publikum bei den Veranstaltungen. Ganz viele Aktive machten diesen Verein, genährt aus dem linken Spektrum der Bürgerschaft, zu dem, was er dann war: gesellschaftlich anerkannt. Und, kleines Wunder: Hanaus Rathaus bekam sogar einen Dezernenten extra für Kultur.

Ich bringe das in Erinnerung, um einen roten Faden zu ziehen zum Thema Literatur. Damit ist die Literatur gemeint, die der Hanauer Verlag mit dem schönen Namen Cocon hervor- und unter die Leute bringt. Und wer ist Cocon? Annette und Joachim Schulmerich mit ihrem kleinen Team. Der Verlagssitz ist im Haus Nummer 13 der Straße mit dem schönen Namen „In den Türkischen Gärten”, ein Gebäude der vorletzten Jahrhundertwende und voll mit – voll mit Kultur. Hinterm Haus dort fließt die Kinzig, und wer vorne vorbeikommt ahnt kaum, wie produktiv man in diesem Gebäude seit nunmehr 23 Jahren ist: Rund 240 Bände sind hieraus hervorgegangen, hervorgegangen auch aus einer Utopie und basierend auf einem Satz mit vier Worten: Entdecke, wo du lebst. Das ist die Einladung zu einer erfahr-baren (man kann das wörtlich nehmen) Heimatkunde neuen Stils, ist Reiseführer und gedruckter Fremdenführer, allerdings nicht „Lonely Planet” sondern „Our Planet”. Kein Imperativ, sondern Einladung, Einblick zu nehmen in die Geschichte von Orten und Menschen und in deren Gegenwart. Einen sanften Aufforderungscharakter hat dieses „Entdecke”: Du musst nicht, aber du kannst – etwas machen. Nach-Wandern, Nach-Radeln, Nachkochen. Das ist die sehr anwendungsorientierte Spur im Programm des Verlags, dessen allererster Band 1990 mit dem Buchtitel „Besuch beim Nachbarn Thüringen” erschien, ein Fahrradbuch und Wegweiser in eine Welt, die bis dahin ein weißer Fleck auf dem Globus war, womit der Pädagoge in Joachim Schulmerich die Idee mit den Schülerprojekten wieder aufgriff. Das Er-wandern und Er-fahren einer Landschaft ist ein ganz besonderer Aneignungsprozess, wobei etwas über die Muskelkraft hinaus der eigenen Erinnerung sich einlagert, Naturerfahrung, die man – auch als Lustgewinn – mit nach Hause nimmt. Die zahlreichen Cocon-Wanderbücher über das Kinzig- und das Maintal, über Kahlgrund und Wetterau und Spessart lassen, denke ich, die Vorstellung einer integralen Region entstehen. Einer Region, die sich – beispielsweise über Kochbücher und Gastroguides – geografisch erweitern lässt, aber im Kern doch bei sich bleibt, in einem heimatlichen Halbkreis östlich von Frankfurt. Joachim Schulmerich sagt: „Wir leben unsere Bücher. Übern Vogelsberg zu schreiben oder übern Kahlgrund – das ist was, was uns persönlich ein halbes Jahr bewegt. Wir reden viel mit den Autoren, wandern oder fahren selbst Strecken nach. Es ist mehr, als das Buch zu machen.”

Entdecke, wo du lebst. Das ist auch eine Einladung zum Nach-denken, zum Sich-etwas-bewusstmachen. Und somit der andere wesentliche Aspekt der Verlagsphilosophie von Annette und Joachim Schulmerich. Darauf gestoßen bin ich vor 20 Jahren, das Buch „Steinreich – brotarm” damals in der Hand, es ging um das Bergwinkeldorf Wallroth und um die karge Lebenswelt von Menschen, deren Gegend nicht von der Natur gesegnet ist. Richtig ergriffen hat mich später das Buch von Monica Kingreen über „Jüdisches Landleben in Windecken, Ostheim und Heldenbergen”, ein aufsehenerregendes Ergebnis beharrlicher Forschungsarbeit über Zerstörung und Ende jüdischen Lebens in den Dörfern zur Nazizeit. Und gestaunt habe ich jetzt im Sommer über das Buch „Mein Dein Unser Offenbach”; es geht auf ethnografische Recherchen und eine Ausstellung über Einwanderer in die Stadt zurück, in der 54 Prozent der heutigen Bürger einen sog. Migrationshintergrund haben. Was wiederum zum Begriff von Offenbach als „Integrationsmaschine” führt. Wo, dachte ich mir, wo kann denn so ein Buch sonst erscheinen als im Hanauer Cocon-Verlag?

Den Verlag kann man als Medium, als literarischen Repräsentanten unserer Region sehen. Ja sogar als eine Institution, die eine Region verfasst – abseits politischer Strukturen, an Grenzen nicht gebunden. Und etwas, was ich besonders erwähnen möchte: Das Verlegerpaar ist stets nah an den Leuten, oft am Büchertisch im Gespräch mit dem Lesepublikum. Das ist so wichtig wie das Gespräch mit den Autoren, Autoren von A bis Z, von Angermann bis Zilch. Und zu den Bücher-Verfassern gehören die Schulmerichs natürlich auch selbst. Als Repräsentanten sind sie wirklich präsent. Was, denke ich, was kann diesem Landstrich an Main und Kinzig, zwischen Vogelsberg und Spessart, literarisch besseres passieren?

Der Name Schulmerich, hatten wir gesagt, hat einen guten Klang für das Kulturleben der Region. Was mich sehr beeindruckt, das ist das Understatement, die selbstbewusste Bescheidenheit von Machern; es paaren sich die Kreativität auf der lokalen Ebene eines Kulturvereins mit Kreativität in der regionalen Dimension eines Verlags: ohne Getöse, ohne das Haschen nach Sensationen, ohne dass etwas an die große Glocke gehängt werden muss. Die Ergebnisse sprechen für sich. Und sie entsprechen dem Bild des Cocons, der sich längst entpuppt hat. Und wir staunen über den flugtüchtigen Schmetterling.

Die Laudatio hielt
Prof. Dr. Heinz Schilling
Vorsitzender der Kulturpreis-Jury