1995 werder

1995 • Frauenarchiv, Werders Scheune

Ilse Werder

Kassel 1925

Zentrum Bernhard Eberhard

Röderstraße 1a • 63450 Hanau



Ilse Werder

Kultur ist für Ilse Werder immer all das, was das ganze menschliche Leben ausmacht: Der Umgang miteinander, das Verhältnis zur Natur und zum sozialen Umfeld — und niemals nur eine Feierabendbeschäftigung für gehobene Kreise. "Wer die kleine agile Person in ihren Bewegungsstrukturen und Motivationen verstehen will," schreibt Helmut Pomplun 1995 in einem Zeitungsbeitrag, "sollte das von ihren existenziellen Erfahrungen her sehen. Kindheit und Jugend in Nazi-Deutschland unter ideologischer Dürre, das Grauen des Krieges bis zum Entsetzen im Bombenhagel."

Zwischen Trümmern, Toten, Not und Elend hat sie damals begonnen, nach den Ursachen zu fragen und nach dem zu suchen, was der Mensch wirklich braucht und welche Verantwortung der Einzelne hat. Als sie 1947 in Kassel bei den "Hessischen Nachrichten" anfängt zu arbeiten, hat sie den Nachholbedarf gespürt, den die Menschen nach Kunst, Literatur, Theater und Politik hatten. "Da haben wir uns reingestürzt unter den kläglichsten Verhältnissen." Politisiert von den Erfahrungen in NS-Zeit und Krieg, tritt sie in die SPD ein und engagiert sich dort besonders für die Schwerpunkte Soziales, Friedens- und Frauenpolitik. Sie heiratet zweimal und schenkt vier Kindern das Leben.

Als sie ihren zweiten Mann verlässt, ist sie 40 Jahre alt, ihre Kinder 4-, 5-, 6- und 16jährig und sie "fiel in ein tiefes kaltes Wasser. Aber durch diese Trennung habe ich auch Kraft entwickelt, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte. Ich habe entdeckt, was alles in mir steckt."

1967 beginnt sie als Korrespondentin für die Frankfurter Rundschau aus Hanau und Umgebung zu berichten. Privatwohnung und Redaktion sind unter einem Dach, so kann sie während der Arbeitszeit nachschauen, was die Kinder machen. Das meiste schreibt sie nachts, morgens holt der Bote die Manuskripte ab, später gibt es einen Fernschreiber…

"Als sie 1986 mit 61 Jahren in Rente ging, war sie nicht nur weitum bekannt als Mrs. Rundschau und kämpferische Frauenrechtlerin. Sie hatte sich auch einen Namen gemacht in der Friedenspolitik und in der Kulturpolitik," resümiert Helmut Pomplun. Sie ist aktiv in der AsF, ist Mitbegründerin des Hanauer Frauenhauses und des Hanauer Kulturvereins, sie hat die seit 500 Jahren bestehenden Verbindungen zum Hanauer Land im Elsass wiederbelebt und die Brüder Grimm aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Zunächst aus Zorn über die Ignoranz der Grimm-Geburtsstadt, später aus Liebe und Bewunderung arrangiert sie eine vielbeachtete Ausstellung über die drei Brüder Grimm und publiziert unermüdlich über sie.

Sie hat 1989 die Ausstellung "100 Jahre Frauenleben rund um das Kinzigtal 1888—1988" organisiert und 1990 das Archiv "Frauenleben im Main-Kinzig-Kreis" gegründet. Dessen Archivbestand basiert im wesentlichen auf 30.000 Einzeltiteln, die Ilse Werder in Jahrzehnten zusammengetragen hat, er wurde mittlerweile um Bildmaterial, Tonträger und Fachliteratur ergänzt. Sie veröffentlicht unter anderem: 1993 "Frauenleben in Schlüchtern", 1994 "Frauen machen sich auf den Weg", 1995 "Künste, Kämpfe, Kompetenzen" und 1998 "Frauen in den Gewerkschaften 1945—1997".

In ihrem (Un-)Ruhestand übernimmt sie anfangs die Redaktion der Zeitschrift "Hanau kulturell" und baut eine verfallene Hofreite in Katholisch-Willenroth wieder auf. Hier entsteht der Kulturtreff "Werders alte Scheune", einem Ondit zufolge ein Anziehungspunkt "für Schöngeister mit künstlerischen Ambitionen und naturverbundener Lebensweise". Sie initiiert in der Sommersaison Bauern-, Kräuter- und Kunsthandwerkermärkte, bietet Kabarett- und Theaterveranstaltungen, Konzerte und Lesungen an und startet von hier zu Lehrwanderungen über Heilkräuter und zu Pilzführungen. Anlässlich ihres 70. Geburtstages erhält Ilse Werder den Kulturpreis für ihre umfassenden kulturellen Aktivitäten. Als sie im Herbst 2000 75 Jahre alt wird, ehrt die Stadt Hanau sie mit der Bürgerplakette dafür, dass sie sich in ihrem beruflichen und ehrenamtlichen Engagement "besonders auf dem Feld der Frauenförderung und der Frauenpolitik verdient gemacht hat."