2012 mellies

2012 • Heimat- und Zeitgeschichtliche Forschung

Monica Kingreen

Lüdenscheid 1952 – Nidderau 2017

Künstlerportrait



Monica Kingreen

"Frau Kingreen hat sehr wichtige Arbeit auf dem Gebiet des jüdischen Lebens in unserer Region geleistet. Sie hat gezeigt, wie selbstverständlich jüdische Mitbürger Teil der städtischen und dörflichen Gemeinschaft waren. Sie hat jüdische Schicksale aufgeklärt und den Menschen wieder Namen und Gesicht gegeben. Sie ist unermüdlich in ihrer Tätigkeit, ist stark in der Region verankert. Hier publiziert und forscht sie, hält Vorträge. Sie weicht keiner Diskussion aus. Ihre Forschung ist nicht nur Wissenschaft, sondern darüber hinaus Herzensanliegen, Zuständigkeit und tiefes Eindringen in das Thema."

Diese Zeilen aus dem eingereichten Vorschlag zu Monica Kingreen haben die Juroren überzeugt. Denn sie beschreiben zutreffend Monica Kingreens Sonderstellung hier im Main-Kinzig-Kreis und darüber hinaus.

Monica Kingreen lebt in Windecken. Das 300 Jahre alte Haus in der Synagogenstraße - der ehemaligen Judengasse - spielt eine wichtige Rolle im Leben der Diplom-Pädagogin. Sie erwarb es mit ihrem Mann im Jahr 1983. Es grenzt direkt an das Grundstück, auf dem sich bis zum Pogrom im November 1938 die Synagoge in Windecken befand. Dieses Haus ist so etwas wie der Ursprung ihrer Forschungen. Schon beim ersten Telefongespräch erzählte ihr der damalige Besitzer der Immobilie die Geschichte des Gebäudes und weckte damit das Interesse der Historikerin: "Und dann habe ich einfach vor die Haustür geschaut. Getreu nach dem Motto: Grabe, wo du wohnst!", bestätigt Kingreen.

Zu dieser Zeit war Monica Kingreen Lehrerin an Grund-, Haupt- und Realschulen. Spezialfach: Geschichte. Ein bisschen vermisst sie diese Zeit, in der sie direkt an Schülern und Schülerinnen dran war: "Der pädagogische Bezug war mir sehr wichtig. Eine Lehrperson muss Ausstrahlung besitzen und die richtigen Worte finden, um Kinder und Jugendliche zu erreichen. Ich denke, das ist mir damals "ein wenig" gelungen."
Zwanzig Jahre später, im Jahr 2003, wurde sie Lehrbeauftragte an der Goethe Universität Frankfurt im Seminar für Didaktik der Geschichte, zugleich wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fritz Bauer Institut an der Universität. Seit 2010 ist sie im gemeinsamen Pädagogischen Zentrum von Fritz Bauer Institut und Jüdischem Museum Frankfurt tätig.

Forschung und Pädagogik - bei Monica Kingreen sind das Bereiche, die zusammen gehören. Sie verbindet die fachliche Perspektive der Forscherin mit der pädagogischen Perspektive der Lehrerin. Ihre Forschung ist keine trockene Wissenschaft. Sie ist ihr Herzensanliegen, geprägt durch tiefes Eindringen in die Materie. Ihr Ziel: Vermittlung von Inhalten, Aufdecken von Wahrheiten, Erzeugung von Verständnis und Respekt, Verbesserung der Gesellschaft.
Ihr großer Verdienst liegt darin, dass Sie zur Veränderung der Erinnerungskultur in unserer Region beigetragen hat. Wie war das Anfang der 80er Jahre, als Kingreen begann, Einzelschicksale jüdischer Bürger in Windecken, Ostheim und Heldenbergen aufzudecken?

Kaum einer hat sich getraut, "öffentlich" Gedanken zu machen. Öffentliche Zeichen waren rar. Einen ersten Meilenstein setzte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner berühmten Rede anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus. Das war am 8. Mai 1985. Nach Weizsäckers Ansicht war dieses Datum für die Deutschen kein Grund zum Feiern, wohl aber ein Gedenktag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: "Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen."

Aber Reden wie die von Weizsäcker waren einzelne Ausrufezeichen - und sie fanden auf der Ebene der "großen" Geschichte statt. Im Kontext von kleinen regionalen Lebenswelten und Nachbarschaften passierte noch nicht viel. Kingreen setzt an diesem Punkt an. Durch Fokussierung auf konkrete Einzelschicksale "vor der Haustür" hilft sie dabei, den Komplex von "Jüdischem Leben, Holocaust und Erinnerungskultur" erfahrbar zu machen.

Und heute zählt es schon fast zum guten Ton einer Stadt oder Gemeinde, Stolpersteine und Gedenktafeln zu haben, die an die Opfer des Holocausts erinnern und an den Terror der nationalsozialistischen Herrschaft mahnen. Das ist gut so. Aber es bleibt noch viel zu tun! Das weiß auch Monica Kingreen, die sagt: "Ich bin jemand, der stolz auf das ist, was in den letzten Jahren passiert ist - der aber auch sieht, was noch getan werden muss."

Was macht Monica Kingreen genau, um zur Veränderung unserer Erinnerungskultur beizutragen?

  • Sie nimmt Kontakt auf zu früheren jüdischen Bürgern der Region, die jetzt im Ausland wohnen.
  • Sie initiiert und organisiert offizielle Einladungen dieser Menschen, zum Beispiel nach Nidderau, Schlüchtern und Hanau. Sie plant Tage und Wochen der Begegnung.
  • Sie hält öffentliche Vorträge zur Geschichte jüdischen Lebens und zur Verfolgung der Juden in der NS-Zeit, z.B. in Kilianstädten, Büdesheim, Gelnhausen, Steinheim, Schlüchtern, Wachenbuchen, Großkrotzenburg, Nidderau, Birstein und Hanau.
  • Sie berät Lokalforscher zum jüdischen Leben im MKK.
  • Sie berät Stolperstein-Initiativen.
  • Sie recherchiert die Namen und Schicksale jüdischer Ermordeter für Gedenktafeln im Main-Kinzig-Kreis.
  • Sie wirkt bei repräsentativen Ausstellungen mit, ist zum Teil verantwortlich für sie. Eine aktuelle Ausstellung im Museum Judengasse in Frankfurt heißt "Gegen den Strom". Dokumentiert werden "aufrechte" Menschen, die jüdischen Verfolgten in Hessen in der NS-Zeit geholfen haben.
  • Sie konzipiert Internetseiten wie das Portal "Vor dem Holocaust", das Fotos zum jüdischen Alltagsleben in Hessen zeigt. Hier sind mehr als 5000 Aufnahmen aus etwa 300 hessischen Dörfern und Städten veröffentlicht, die sie über viele Jahre hinweg gesammelt hat. Der Main-Kinzig-Kreis ist dort mit Bildmaterial zu 40 Orten - von Mauswinkel bis Hanau - vertreten.
    Vieles davon tut sie Kraft ihrer Funktion im Fritz-Bauer-Institut. Das meiste schafft sie ehrenamtlich.

 

Aber vor allem schreibt Monica Kingreen. Sie schreibt und veröffentlicht. Von 1988 bis 2011 sind es über 120 Publikationen. Sie hilft ihren Lesern, sich mit jüdischem Leben und dem Holocaust auseinanderzusetzen und dabei einen moralischen Standpunkt zu erarbeiten, ohne dass sie selbst moralisierend erscheint. Ihr zentrales Buch "Jüdisches Landleben in Windecken, Ostheim und Heldenbergen" erscheint im November 1994. Ein Großformat mit 535 Seiten. Bereits im März 1995 wird eine zweite Auflage gedruckt. Darin umfasst sie 650 Jahre Geschichte der hier beheimateten Juden. Wissenschaftlich fundiert und belegt durch Quellenmaterial aus Archiven, Erzählungen von Zeitzeugen und Interviews mit früheren jüdischen Bewohnern, die sie in der ganzen Welt ausfindig gemacht hatte. Die Frankfurter Rundschau veröffentlicht Auszüge daraus in einer 11teiligen Serie.

In ihrem großen Fundus an Veröffentlichungen findet man Buchpublikationen und Zeitungsreportagen, ebenso wissenschaftliche Aufsätze in Periodika, Sammelpublikationen und Nachschlagewerken.

Man stolpert über Titel wie:
"Vertraulich: Jetzt ist die letzte Möglichkeit gegeben, sämtliche Juden loszuwerden". Zur Verschleppung der Juden aus den Städten und Dörfern des Main-Kinzig-Kreises am 5. September 1942."

Aspekte für Gespräche mit Grundschulkindern zum Holocaust - einem nicht einfachen Thema.

Letzteres spielt auf Kingreens pädagogisches Wirken an. Sie gibt im pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des jüdischen Museums Tipps und Mittel an die Hand, damit die Lehrkräfte bei ihren Schülern das Interesse für den Holocaust wecken. Und: damit sie die richtigen Worte dafür finden.

Zu den Schwerpunkten von Kingreens Arbeit zählt natürlich der Holocaust. Die Deportationen der Juden (aus allen hessischen Gemeinden, insbesondere auch aus dem Gebiet des MKK) in die Konzentrationslager hat sie genauestens erforscht und dokumentiert. Ein besonderes Anliegen ist es ihr jedoch schon immer gewesen, die Zeit vor dem Holocaust zu thematisieren. Die Zeit, in der Juden auch als geachtete und gleichberechtigte Bürger lebten. Viele Bilder aus dem jüdischen Alltagsleben, die sie bei ihren Recherchen zusammenträgt, zeigen Juden als Teil der dörflichen Gemeinschaft. Die meisten Bilder wurden vor der Machtübernahme der Nazis aufgenommen. Darauf zu sehen sind stolze Familienväter, fürsorgliche Mütter, glückliche Kinder. Einige Beispielbilder sind hier im Barbarossasaal angebracht. Diese Bilder stehen für Normalität und für Leben. Beides ist von der Nazi-Barbarei jäh zerstört worden. Das weiß der Betrachter dieser Bilder. Und somit entfalten sie eine fast ebenso große Wirkung wie die Bilder des Grauens aus den Konzentrationslagern.

Meine Damen und Herren, wir sind uns einig, dass wir eine "ehrliche und intensive" Erinnerungskultur brauchen. Und dass diese ständig weiterentwickelt werden muss. Fast überall in Deutschland sind Neonazis und ihre Übergriffe ein Problem. Ich bin überzeugt, dass die große Mehrheit in diesem Land Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ablehnt. Aber diese Mehrheit darf nicht schweigen, darf nicht wegschauen und darf die Vorgänge in unserem Land nicht verharmlosen. Sie muss den Mut haben, aktiv einzugreifen und für die richtige Überzeugung zu kämpfen. Dabei sind wir immer wieder aufgefordert, mit dem Schutz der Menschenwürde ernst zu machen. Wir müssen stets eine lebendige und starke Demokratie vorleben. Und wir müssen Zeichen der Erinnerung und Mahnung setzen.

Die Voraussetzung hierzu ist, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und dass wir unsere Rolle im historischen Zusammenhang richtig begreifen. Dazu brauchen wir Menschen, die uns an unsere Geschichte erinnern. Menschen, die unsere Erinnerungskultur voranbringen. Wir brauchen Menschen, die uns zeigen, wie selbstverständlich Juden Teil der städtischen und dörflichen Gemeinschaft waren. Wir brauchen Forscher, die Schicksale aufklären und den Personen wieder Namen und Gesicht geben. Wir brauchen Menschen wie Monica Kingreen.

Liebe Frau Kingreen, Sie haben hierzu einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Der Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises ist eine Anerkennung für ihren besonderen Verdienst im Bereich der zeitgeschichtlichen Forschung und Veränderung der Erinnerungskultur im Main-Kinzig-Kreis. Im Namen der Kulturpreis-Jury gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.

Die Laudatio hielt
Erich Pipa
Landrat des Main-Kinzig-Kreises